NACH PUTIN
Civis Mundi Digital #156, 31 März 2025
von Otto van de Haar
https://ottomvandehaar.blogspot.com/2025/04/nach-putin-civis-mundi-digital-156-31.html
Rezension von Sjeng Scheijen, Ein anderes Russland. Bausteine für ein friedliches Europa nach Putin. Prometheus, 2025.
Der Slawist Sjeng Scheijen ist ein Spezialist für die russische Kunst des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, über die er bereits zwei solide Studien veröffentlicht hat: 2009 über den legendären Ballettmeister Daghilew, zehn Jahre später über die russischen Avantgardisten. Jetzt hat er mit großem Schwung und Leidenschaft ein Manifest geschrieben: Ein anderes Russland. Bausteine für ein friedliches Europa nach Putin. (1)
Bausteine für dieses „andere Russland“ findet er im Russischen Kaiserreich (1721-1917). Er konzentriert sich auf die positiven Aspekte und stützt sich dabei auf seine eigenen Archivrecherchen und die erfrischende Forschung von Historikerinnen. Er wendet sich gegen die einseitige Sichtweise, dass jeder Fortschritt im Osten einer kleinen europäisierten Elite zuzuschreiben sei. Nein, auch der Osten hat eigene Initiativen ergriffen und war dem Westen in einigen Fällen sogar voraus.
Aufklärung
Es liegt auf der Hand, dass Montesquieus Aufklärungsklassiker De l'esprit des lois (1748) im Russischen Reich kaum Wurzeln geschlagen hat. Doch auch wenn die Bedeutung des Konzepts der „trias politica“ unmöglich unterschätzt werden kann, so gebührt dem Westen doch eine gewisse Bescheidenheit, vor allem heute, meint Scheijen. Er verweist auf ein hochaktuelles Zitat des Gründervaters John Adams, der kurz nach Inkrafttreten der US-Verfassung (1787) warnte, dass trotz aller Schutzvorherungen große Gefahren nicht auszuschließen seien: „Habgier, Ehrgeiz, Rachsucht oder Leichtsinn [können] die stärksten Fasern unserer Verfassung zerreißen, wie ein Wal ein Netz durchschlägt.“
Das Fehlen einer trias politica, so Scheijen, bedeute übrigens nicht, dass das Land keine Aufklärung gehabt hätte. So war Kaiserin Elisabeth (1741-1762) das erste Staatsoberhaupt, das 1754 ein Moratorium für die Todesstrafe erließ, „ein Meilenstein in der Geschichte der Menschenrechte“. Zehn Jahre später legte der einflussreiche italienische Aufklärer und Politiker Cesare Beccaria eine Publikation vor, in der er das Moratorium Elisabeths philosophisch untermauerte.
Emanzipation der Frauen
Ausführlich geht der Autor auf die rechtliche Stellung der - zunächst natürlich meist adligen - Frauen ein, die insbesondere in der Ära Katharinas der Großen (1762-1796) verwirklicht wurde. Das höchste russische Rechtskollegium entschied, dass verheiratete Frauen ohne Einmischung ihrer Ehemänner frei über ihren Besitz verfügen konnten. Im Jahr 1861 befanden sich dreißig Prozent des privaten Grundbesitzes im Russischen Reich unter der Kontrolle von - Frauen. In Westeuropa wurden solche Gesetze erst später erlassen. In England im Jahr 1882 und in Italien im Jahr 1919. In den Niederlanden waren verheiratete Frauen bis 1957 „entmündigt“. Katharina die Große brachte auch Aufklärung, indem sie die Diskriminierung von Frauen im Bildungswesen bekämpfte und dabei besonders auf Fähigkeiten und Charakter und weniger auf Herkunft oder Nationalität achtete, sagt Scheijen. Auf ihre Initiative hin entstanden die ersten Mädcheninternate, und die Akademie der Wissenschaften, die einst vom revolutionären Reformer Peter dem Großen (1672 - 1725) gegründet worden war, erhielt eine weibliche Präsidentin, die brillante Jekaterina Daskowa, „die erste Frau der Welt, die jemals eine nationale Akademie leitete“. In der Zeit Alexanders II. (1855-1881) erhielten vor allem die Frauengymnasien einen kräftigen Aufschwung, auch in den asiatischen Teilen des Reiches wie Taschkent. Der Anteil der Schülerinnen aus Beamten-, Militär- und Adelsfamilien nahm zugunsten von Schülerinnen aus einfacheren Verhältnissen stetig ab.
Das Aufblühen der Frauengymnasien konnte unter anderem durch die Unterstützung privater bürgerlicher Initiatoren erfolgreich stattfinden. Zu Gunsten von Schülerinnen aus armen Familien wurden landesweit Spendenaktionen durchgeführt. Und trotz des Widerstands der (männlichen) Direktoren entstanden im neunzehnten Jahrhundert auch in Kasan, St. Petersburg, Moskau und Kiew Frauenuniversitäten. ‘Die ganze Trickkiste der Mittelbeschaffung (Lotterien, Wohltätigkeitsvereine) kam zum Einsatz. Für viele Professoren war es eine Frage des natürlichen Stolzes und der Verpflichtung, Frauen zu unterrichten’. Schriftsteller wie Dostojewski und Gorki hielten Benefizvorlesungen.
Die Behauptung, russische Bürger seien abgeneigt, sich ehrenamtlich zu betätigen, sich zu engagieren oder Verantwortung für das Gemeinschaftsleben zu übernehmen, ist, wie Scheijen sagt, „historisches Geschwätz, Verleumdung der widerlichsten Art“. Er verschweigt nicht, dass das Reich auch den Stempel des Kolonialismus, der schweren Unterdrückung, des Rassismus, des Judenhasses und des Sexismus trug. (2) Es war keineswegs ein paradiesischer Ort. Aber „die fortschrittlichen und humanen Errungenschaften“, so die Autor, sind beachtenswert. Die Geschichte der Frauenemanzipation im Kaiserreich zeigt ... eine lange Geschichte des bürgerlichen Engagements und damit einer Zivilgesellschaft". Dieses Potenzial sei immer noch vorhanden, trotz der unbarmherzigen Schläge, die es vor allem während der Sowjetherrschaft unter Lenin, Stalin und... Putin erlitten hat.
Über Putin und seine Vorgänger schreibt Scheijen: "Der unverschämte Zynismus großer Teile der heutigen russischen Elite, das schamlose Stehlen, die geschmacklose Zurschaustellung gestohlenen Reichtums, das ganze Ethos und die Ästhetik der Zuhälter und Penoze, die so charakteristisch für die administrativen Eliten unter Putin (…) sind das Ergebnis konkreter, politisch gesteuerter, ungesühnter und unaufgearbeiteter monströser historischer Verbrechen".
Der Autor glaubt aber, aus seiner Betrachtung der emanzipatorischen „Lichtblicke“ des russischen Imperiums den Schluss ziehen zu können, dass ein grundlegender Richtungswechsel Russlands - nach Putin - nicht undenkbar ist. (3) Er verweist auf den bemerkenswerten Umschwung in Ländern wie Spanien nach Franco, Südafrika nach der Apartheid und Deutschland nach Hitler. Wie die Geschichte anderer Länder, z. B. Deutschlands und Frankreichs, ist auch die russische Geschichte komplex und heterogen, mit Kontinuitäten, aber auch mit Diskontinuitäten, stellt Scheijen fest. [
Trotz Stalin
Die positiven Errungenschaften der Sowjetzeit in verschiedenen Bereichen hatten laut Scheijen bereits weitgehend während des Kaiserreichs begonnen. Auch im sozioökonomischen Bereich. Lange Zeit war der Westen im Vorteil, aber ab 1870, so Scheijen, unterschied sich die Lage eines baltischen, katalanischen, ukrainischen, drentheischen, russischen oder walisischen Bauern kaum noch. Noch vor der Russischen Revolution (1917) verzeichnete die kapitalistische Entwicklung einen erstaunlichen Wachstumsschub.
Bevor die rote Fahne über dem Land wehte, war längst klar, dass eine Supermacht im Entstehen begriffen war. Was auch immer an Positivem über die spätere Sowjetzeit gesagt werden kann, so Scheijen, wurde fast alles nicht dank, sondern trotz Stalin erreicht: "Er entließ, verhaftete und exekutierte seine besten Biologen und Agronomen. Seine Agrarpolitik führte zu dramatischen Hungersnöten, die er aus Rache gegenüber den Bauern in der Ukraine, den Kuban- und Wolgagebieten und Kasachstan bewusst verschärfte.
Während der großen Säuberungsaktion in der Armee wurden zahlreiche Offiziere entlassen, gefoltert, in den Gulag gesteckt und ermordet. Scheijen zufolge kostete der völlig sinnlose Krieg gegen die Finnen im Jahr 1939 die Sowjetunion einen kolossalen Verlust an Männern. Dass Stalin schließlich über Hitler triumphierte, der 1941 in das Land einmarschiert war, lag einzig und allein an der Opferbereitschaft und Unnachgiebigkeit der Bevölkerung. (...) die absurd hohe Zahl der Todesopfer auf sowjetischer Seite ist das Ergebnis der Inkompetenz, der Grausamkeit und der Dummheit von Stalin und seinen skrupellosen Lakaien". (4)
Europe
Auf der letzten Seite seines Manifests wird ein letzter Tweet des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny zitiert, der im vergangenen Jahr von Putin vergiftet und getötet wurde: "Nach dem Krieg werden wir die Ukraine für alle Schäden entschädigen müssen. Wir müssen Putins Regime und seine Diktatur beseitigen. Am besten durch allgemeine freie Wahlen und die Einberufung der verfassungsgebenden Versammlung”. Und Putins Todfeind fügt etwas hinzu, das Sjeng Scheijen aus gutem Grund zitiert: "Im Bewusstsein unserer Geschichte und Traditionen müssen wir uns als Teil Europas bekennen und einen europäischen Entwicklungsweg einschlagen. Das ist unsere einzige Option, und wir brauchen keine weitere".
Die Tatsache und die Art und Weise, in der der politische Gefangene Nawalny ermordet wurde, zeigen, dass der Stalinismus lebendig ist. Dass rund fünfhundert mutige russische Ärzte kurz vor seinem Tod durch eine Petition einen unabhängigen Arzt forderten, der die wahre Ursache des halb gelähmten Nawalny untersuchen sollte, ist ein Beispiel für ein anderes Russland, das sich - nach Putin - entwickeln könnte.
Anmerkungen
1 Sjeng Scheijen, Ein anderes Russland. Bausteine für ein friedliches Europa nach Putin (2025). Vom selben Autor: Sergei Diaghilev 1872-1929, A Life for Art (2009) und The Avantgardists. The Russian Revolution in Art, 1917-1935 (2019).
2 Scheijen ignoriert das Völkergemetzel des Ersten Weltkriegs. Das expansive Kaiserreich trug nicht unwesentlich dazu bei, auch wenn das Deutsche Reich der eigentliche Initiator war.
3 Wenn wir noch eine Weile im heiteren Modus bleiben, kann vielleicht ein weiterer Baustein in Bezug auf den russisch-ukrainischen Krieg hinzugefügt werden. Das ist die damals unmögliche deutsch-französische Aussöhnung zwischen Adenauer und De Gaulle. Das war 1963, nur 18 Jahre nach Hitlers Sturz.
4 Der deutsche Angriffskrieg mit seiner Wehrmacht und seinen Einsatzgruppen trug zum Teil zu kolossalen Verlusten auf sowjetischer Seite bei. Scheijen weiß das natürlich auch, erwähnt es aber in der Hitze seiner Argumentation nicht. Was das in der Tat heldenhaft kämpfende Finnland betrifft, so wird oft vergessen, dass Finnland nach dem Ende dieses Krieges zu territorialen Zugeständnissen gezwungen wurde.